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DIE HOHE KUNST DER INTERPRETATION
 
Kürzlich traf ich einen meiner früheren Deutschlehrer, der entgegen meinen Vorhersagen doch nicht an Schülermaroditis gestorben war, sondern für sein hohes Alter einen erstaunlich rüstigen Eindruck machte. Nach meiner erfolglosen Flucht, die mich durch mehrere anerkannte Kneipen führte - der Herr muß mit den Örtlichkeiten dort schon irgendwie vertraut gewesen sein - hatte er mich endlich am Kragen gefaßt.
"Grüazi!" rief er mir in unverkennbarem Universitätsdeutsch zu. "Wie geht es dir?" "Danke, gut!" "Und wie geht es deinen Eltern?" "Danke, gut!" "Und wie geht es deiner Schwester?" "Danke, gut!" An dieser Stelle versandete das flotte Gespräch.
"Ich habe auch noch einen Onkel." versuchte ich, es wieder in Gang zu bringen.
Doch zu meiner Überraschung wechselte er das Thema.
"Sag mal, ich habe gehört, du schreibst auch Kurzgeschichten für eure Schülerzeitung" sagte er. "Stimmt das?" "Man tut halt was man kann." gab ich verlegen zu.
"Nein, nein, mein Junge, keine falsche Bescheidenheit!" lobte er mich. "Dein FRÜHSTÜCK IM SARG zum Beispiel war ein literarischer Volltreffer."
"Tja!" sagte ich überlegen, "ich habe halt etwas geschrieben, nur zum Vergnügen der anderen, nicht zur Interpretation, verstehen Sie? Alles wird schon im Stück gesagt!"
"Ich verstehe dich sehr gut!" sagte er in väterlichem Ton. "Einiges ist mir allerdings unklar geblieben, muß ich zu meiner Schande gestehen, gestand er zu seiner Schande.
"Fragen Sie mich nur!" Irgendwie war er einen Kopf kleiner geworden, oder ich größer? (Alles ist relativ, sagte schon Einstein)
"Nun, um es kurz zu machen, da ist zum Beispiel die Stelle am Anfang mit der schwarzen Rose. Ich nehme an, es handelt sich dabei um ein Symbol des Todes..."
"Aber das ist doch für die Geschichte ohne Bedeutung!" versuchte ich ihn zu belehren.
"Nein, nein, mein Junge, das ist ein sehr wichtiger Punkt." In welchem Ton er das sagte, "Mein Junge!" (Ich beginne langsam, an der Relativitätstheorie zu zweifeln.) "Zweifelsohne handelt es sich bei der Rose um ein Symbol des Übergangs vom Leben zum Tod. Die Rose - ein Symbol des Lebens, das Schwarze - Symbol des Todes, die schwarze Rose - der Übergang. Die schwarzen Handschuhe haben eine ähnliche Bedeutung."
Ich wunderte mich, wie geschickt ich doch die Geschichte abgefaßt hatte, ohne es zu sehen. Tja, ich bin eben der geborene Schriftsteller.
"Wie viele Symbole des Lebens du doch hineingelegt haste" fuhr er mit der Besprechung fort. "Die Rose, das Wasser, der Morgen, das Eichhörnchen. Ich selbst wäre darauf nie gekommen."
"Ich auch nicht." gestand ich mir ein, hütete mich aber, es auszusprechen.
"Ich werde das Stück doch mal mit meiner Klasse besprechen, mal sehen, ob die Schüler die Hintergründe verstehen." Da war er in seinem Element. Die Lehrer merken anscheinend gar nicht, daß sie aus einem Text herausinterpretieren, was gar nicht dort steht.
"Sie haben auch wohl nichts Besseres zu tun, als über anderer Leute Stücke zu reden und sie in der häßlichsten Weise zu verdrehen." fuhr es aus mir heraus. Im nächsten Moment bereute ich es zutiefst. Ich hatte mich bloßgestellt, meine eigene Unfähigkeit der Sinngebung zugestanden.
Zum Glück schien er gar nicht zugehört zu haben. Erst jetzt bemerkte ich, daß er mit seiner Interpretation noch nicht zu Ende war. Er stand verzückt da und redete mit der Straßenlaterne. Ich ließ ihn stehen, wo er stand und eine Menge ihn amüsiert betrachtete. Recht geschah ihm. Von weitem hörte ich noch seine Worte "Und dann ist da noch der gehörnte Mann. Er muß irgendeine Überleitung zum Tierreich sein..."